. . . seid Sand im Getriebe . . .

Ich beneide sie alle, die vergessen können,
die sich beruhigt schlafen legen und keine TrÀume haben.
Ich beneide mich selbst um die Augenblicke blinder Zufriedenheit:
erreichtes Urlaubsziel, Nordseebad, Notre Dame,
roter Burgunder im Glas und der Tag des Gehaltsempfangs.
Im Grunde aber meine ich, daß auch das gute Gewissen nicht ausreicht,
und ich zweifle an der GĂŒte des Schlafes, in dem wir uns alle wiegen.
Es gibt kein reines GlĂŒck mehr (- gab es das jemals -),
und ich möchte den einen oder andern SchlÀfer aufwecken können
und ihm sagen, es ist gut so.

Fuhrest auch du einmal aus den Armen der Liebe auf,
weil ein Schrei dein Ohr traf, jener Schrei,
den unaufhörlich die Erde ausschreit und den du sonst
fĂŒr das GerĂ€usch des Regens halten magst
oder fĂŒr das Rauschen des Winds.
Sieh, was es gibt: GefÀngnis und Folterung,
Blindheit und LĂ€hmung, Tod in vieler Gestalt,
den körperlosen Schmerz und die Angst, die das Leben meint.
Die Seufzer aus vielen MĂŒndern sammelt die Erde,
und in den Augen der Menschen, die du liebst, wohnt die BestĂŒrzung.
Alles, was geschieht, geht dich an.

Wacht auf, denn eure TrÀume sind schlecht!
Bleibt wach, weil das Entsetzliche nÀher kommt.
Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den StÀtten,
wo Blut vergossen wird,
auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,
worin du ungern gestört wirst.
Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen,
aber sei gewiss.

”Oh, angenehmer Schlaf
auf den Kissen mit roten Blumen,
einem Weihnachtsgeschenk von Anita,
woran sie drei Wochen gestickt hat,
oh, angenehmer Schlaf,
wenn der Braten fett war und das GemĂŒse zart.

Man denkt im Einschlummern an die Wochenschau
von gestern abend:
OsterlÀmmer, erwachende Natur,
Eröffnung der Spielbank in Baden-Baden,
Cambridge siegte gegen Oxford mit zweieinhalb LĂ€ngen, -
das genĂŒgt, das Gehirn zu beschĂ€ftigen.

Oh, dieses weiche Kissen, Daunen aus erster Wahl!
Auf ihm vergißt man das Ärgerliche der Welt,
jene Nachricht zum Beispiel:
Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung:
Die Frau, Mutter von sieben Kindern, kam zu mir mit einem SĂ€ugling,
fĂŒr den sie keine Windeln hatte und der
in Zeitungspapier gewickelt war.
Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichtes, nicht unsre.
Man kann dagegen nichts tun,
wenn einer etwas hÀrter liegt als der andere.
Und was kommen mag, unsere Enkel mögen es ausfechten.”

”Ah, du schlĂ€fst schon? Wache gut auf, mein Freund!
Schon lÀuft der Strom in den UmzÀunungen,
und die Posten sind aufgestellt.”

Nein, schlaft nicht, wÀhrend die Ordner der Welt geschÀftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht,
die sie vorgeben fĂŒr euch erwerben zu mĂŒssen!
Wacht darĂŒber, daß eure Herzen nicht leer sind,
wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das UnnĂŒtze, singt die Lieder,
die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!

Autor: GĂŒnter Eich
Published by Jedermann
12 years ago
Comments
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egines
egines 12 years ago
Huch, jetzt isser ja plötzlich da! :smile: Der Hamster treibt seine Scherze mit mir!
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egines
egines 12 years ago
Sche... - mein langer Comment ist unmittelbar nach den Senden verschwunden. Das passiert leider in letzter Zeit des öfteren!. :smile:
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egines
egines 12 years ago
Leider, leider rĂŒttelt dei poetischer Aufschrei nur wenige wach. Motto: Was können wir schon tun? Die da oben sind doch am DrĂŒcker!

VerĂ€nderungen fangen immer von ganz unten an. Zuerst ganz klein, dann immer grĂ¶ĂŸer bis daraus eine Bewegung entsteht.

Viele kleine Schritte fĂŒhren auch vorwĂ€rts...

Revolutionen beginnen von unten, weil sich oben nichts verÀndert!
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Weinfan
Weinfan 12 years ago
Vieles von dem stimmt, aber mit Sand wird es nicht besser. Die Welt differenziert sehen, das Gute nach KrÀften fördern, das Schlechte nie akzeptieren und das UnabÀnderliche hinnehmen - und das alles mit Weishet auseinanderhalten können - bringt uns voran!
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